
Das Buch der italienischen Schriftstellerin ist eigentlich ein Brief an ihren Vater, der längst verstorben ist. Francesca Melandri bittet ihren Vater, ihr zu erklären, was Krieg bedeutet und versucht, diesen aus der Sicht des Vaters anzuschauen. Melandris Vater floh als italienischer Gebirgsjäger (Alpini) in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee. Während Zehntausende erfroren, überlebte er als einer von wenigen. Der “Rückzug aus Russland” hat sich bis heute als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt. Der Vater hatte seiner Tochter von Orten erzählt, die die Autorin in den Medien wiedererkennt, als 2020 der Ukraine-Krieg ausbricht.
Sie versteht plötzlich, dass ihr Vater, der vom Russlandfeldzug sprach, in Wahrheit im 2. Weltkrieg einen Krieg in der Ukraine erlebt hatte. Melandris Vater kämpfte unter Mussolini an der Seite der Faschisten; die Autorin fragt sich, welche Schuld ihr Vater trägt. Dabei versteht sie sich nicht als Richterin; sie beurteilt nicht, sondern sie versucht zu beobachten, zu recherchieren und zu verstehen. Bei Francesca Melandri steht ihr Vater auch für “das große Schweigen”, das in der Nachkriegszeit in Italien (wie auch in Deutschland) herrschte, denn von der wirklichen Situation der Soldaten im Krieg erzählt er kaum etwas.
Für mich ist dieser Roman eines der beeindruckendsten Bücher, die ich 2024 gelesen habe, denn die Autorin beobachtet so feinfühlig und genau, dass ihre Gedanken direkt “unter die Haut” gehen. Die Leserin/ der Leser wird angehalten, auch über unsere historische Verantwortung angesichts des Angriffskrieges auf die Ukraine nachzudenken. Francesca Melandri gehört in Italien zu den beliebtesten Autorinnen der Gegenwart.
Wer möchte, kann den Roman derzeit noch kostenlos in der ARD-Audiothek (bitte einfach anklicken), gelesen von der Schauspielerin Nina Kunzendorf, anhören.
Das Buch ist im Bestand der Bibliothek vorhanden, jedoch (noch) nicht in der Onleihe.
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Im Bayrischen Rundfunk gibt Francesca Melandri ein Interview.
Im NDR Kultur wird der Roman empfohlen; er wurde dort im Oktober 2024 vorgelesen.
Im SWR Kultur bespricht Brigitte Neumann den Roman: “Melandris Buch ist ein dramatisches Zwiegespräch mit dem Vater und eine kluge Abrechnung mit der russlandfreundlichen Linken.”