Verwirrt, verwirrend und sozialkritisch
Ulrich Hoferichter und Lars Kaschke sprechen in der Stadtbibliothek über die Lyrik zwischen den Weltkriegen
War das ein Zeichen ihrer weiter fortschreitenden Symbiose? Diesmal traten Kaschke und Hoferichter sogar im Partnerlook auf. Der eine im weinroten Hemd, der andere im weinroten Pullover saßen die beiden literarisch interessierten und literarisch unterhaltenden Syker Lehrkräfte in der Bibliothek. An Zufall mag da nur derjenige glauben, der die beiden nicht kennt. Denn die beiden, Dr. Lars der eine, Ulrich der andere mit Vornamen, sind über die Jahre zu einem interessanten und unterhaltsamen Vortrags-Duo geworden, das ihrem Publikum die Feinheiten und Zwischentöne der Literatur näherbringt. Da Lars Kaschke als 1986er Abiturient den anderen als Lehrer erleben durfte, trennen sie altersmäßig ein paar Jahre. Sie eint ihr Interesse an Wortwitz und Wortspielen, an der Sprache an sich.
Irgendwann fanden sie zueinander, unternahmen schon augenzwinkernde Ausflüge in die Liebe und in die Lüge. Dabei foppten sie sich gegenseitig und nannten sich im Stile der Politikmagazinmacher Hauser und Kienzle regelmäßig genüsslich nur beim Nachnamen. Ihr neuestes Programm befasste sich mit der Lyrik zwischen den Weltkriegen. Nicht ganz so spaßig wie die anderen Lesungen war es diesmal. Ob das dem Thema oder der Tagesform geschuldet oder einfach nur gewollt war, weiß man bei den beiden nicht. Wahrscheinlich war es von allem ein bisschen. Denn das, was Kästner, Morgenstern, Trakl, Tucholsky und viele andere im Verlauf der ersten Weltkatastrophe und in Anbahnung der zweiten schrieben, ist schließlich per se ein ernstes Thema.
Der Abend dauerte genau zwei Schulstunden – Lehrer können eben nicht aus ihrer Haut. Die mit zahlreichen Informationen über die damalige Zeit und die Schrifsteller gespickte Lesung war unterhaltsam, erhellend und in ihrer 100 Jahre alten Aktualität beinah erschreckend. Beispielsweise passte die Beschreibung der kapitaltischen Systeme mit der Ausbeutung der Bürger und dem „die Großen lässt man laufen“ auch in die heutige Zeit. So manches Mal blieb das Lachen im Halse stecken. Überhaupt seien die Schriftsteller sehr weitsichtig und vorausschauend gewesen und halten früh die Probleme im System erkannt und benannt. Dr. Kaschke wies zu Beginn darauf hin, dass der Titel des Abends nicht ganz exakt sei, schließlich gebe es auch Texte aus den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts und damit vorm Ersten Weltkrieg. Da er nicht nur Deutsch- sondern auch Geschichtslehrer ist, war er zu dieser Klarstellung quasi per Amtseid verpflichtet. Die 50 Besuchenden, darunter übrigens 40 Frauen, klatschten viel und überzeugt.
In der großen Pause halte es wie immer bei Veranstaltungen des Fördervereins der Stadtbibliothek Wasser und Wein gegeben. Hoferichter deutete an, dass diese Lesung nicht die letzte der beiden gewesen sein könnte. Er erntete ein ebenso zufriedenes wie zustimmendes Nicken. Beim Vortrag zur Lüge in der Literatur halten sie ein Programm von Roger Willemsen überarbeitet und vorgetragen. Diesmal gab es eine Eigenproduktion. Um genauer zu sein, wie Hoferichter außer Hörweite seines Partners erklärte, „habe ich das meiste gemacht, ich bin ja Rentner und Kaschke muss noch arbeiten“.
Die 1910er Jahre waren die Zeit der Expressionisten. „Verwirrt und verwirrend“ sei deren Schreibe gewesen. Waren Christian Morgensterns Texte vom Huhn in der Bahnhofshalle, dem Hecht und dem Nasobem lustig bis grotesk, so war es gerade Erich Kästner, der das Grauen der Diktatur vorhersah. „Ganz rechts zu singen“ und „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn“ waren nur zwei der Stücke. Kästner habe die Nazis demaskiert und lächerlich gemacht, dafür hat er sich auch in Lebensgefahr begeben, erklärten die beiden. Auch heftige und heute leider noch immer aktuelle Sozialkritik von damals gab es zu hören. Alles im allem ein Abend, der zum Nachlesen und Nachdenken anregte.
Kritik von Karsten Bödeker im Syker Kurier