Karina Urbach – Das Buch Alice

“Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten”, lautet der Untertitel dieses Buches, das eine akribisch recherchierte Aufarbeitung der Lebensgeschichte der Wiener Jüdin Alice Urbach beinhaltet. Diese war in den 1920ger Jahren eine erfolgreiche Kochbuch-Autorin.

1938 flüchtet sie vor den Nazis nach England, schlägt sich als Dienstbotin durch und leitet später zusammen mit ihrer Freundin Paula Sieber, die wie sie völlig unerfahren in pädagogischer Arbeit ist, ein Flüchtlingsheim für jüdische Mädchen. Nach dem Krieg gelingt es ihr, nach New York zu emigrieren. Sie gibt Kochkurse und tritt im amerikanischen Fernsehen auf, wo sie ihre Rezepte vorstellt.

Bei einem Besuch in Wien noch im Jahr 1949 entdeckt Alice Urbach ihr Kochbuch im Buchhandel, das jedoch den Namen eines ihr völlig unbekannten Verfassers trägt. Viele Stellen sind von feministisch oder international klingenden Formulierungen “gesäubert” worden. Auf Nachfragen, wer dieser Mann sei, gibt der Verlag keine Auskunft. Es heißt, wichtige Schriftstücke seien im Archiv verschwunden. Alle Versuche von Alice Urbach, ihr Autoren- und Urheberrecht geltend zu machen, bleiben ohne Erfolg. Sie kann nur annehmen, dass der Verlag während der NS-Zeit ihren jüdischen Namen tilgen, aber weiterhin am Buch verdienen wollte. Alice Urbach hat kein Geld für einen Anwalt und angesichts dessen, dass 1,5 Millionen Kinder im Holocaust umkamen, erscheint ihr der Verlust ihres Kochbuchs zu unbedeutend.

Wenige Tage nach dem Erscheinen von “Das Buch Alice” gibt der Reinhardt-Verlag doch noch eine Stellungnahme ab und bezeichnet das damalige Verhalten des Verlags als heute nicht mehr moralisch vertretbar.

Karina Urbach, eine Enkelin der Autorin des Kochbuchs “So kocht man in Wien”, ist eine bekannte Historikerin; sie forscht derzeit in Princeton/USA. Sie hat hier ein Stück Zeitgeschichte spannend und umfassend aufgearbeitet. Ich würde mich nicht wundern, wenn dieses Buch eines Tages verfilmt werden würde!

“Das Buch Alice” ist inzwischen auch als Taschenbuch beim Ullstein Verlag erschienen. Es ist derzeit weder im Bestand der Bibliothek noch in der Onleihe ausleihbar.

Kerstin Nowak

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Andrea Gerk spricht mit Karina Urbach im Deutschlandfunk Kultur:

Dass dieser Skandal bis heute nicht aufgearbeitet worden ist, liegt laut Urbach daran, dass Historikerinnen und Historiker sich erst seit 20 Jahren mit dem Thema “Arisierung” beschäftigen. Zuvor seien die Akten nicht freigegeben worden.

Die taz schreibt:

Die Lektüre ihres Buches bietet ein Lehrstück in Sachen Niedertracht, Antisemitismus, Habgier und Gewissenlosigkeit bis in unsere heutige Zeit – es ist aber auch ein Dokument des Widerstands und der beharrlichen Verweigerung, sich dem Unrecht zu beugen.

Karina Urbach erzählt Tina Pokern (für den Stern) am 19.11.2020 über ihre Großmutter:

Nach dem Ersten Weltkrieg stand sie völlig mittellos mit zwei kleinen Kindern da und musste überleben. Sie liebte Kochen und entdeckte durch Zufall eine Marktlücke. Es gab damals viele junge Frauen, die nicht wussten, wie man kocht. Sie kannten keine schönen Zutaten, im Krieg war alles rationalisiert gewesen. Viele dieser Frauen waren berufstätig, sie mussten nebenher ihre Familien versorgen und sie benötigten Hilfe dabei, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Alice erkannte das.

Eva-Maria Schnurr vom Spiegel interviewte die Autorin am 8.10.2020:

Ja, der Verlag hat hat Alices Buch im Zuge der Verdrängung und Verfolgung von Juden eindeutig “arisiert”. Sie haben einen anderen Autor als Strohmann eingesetzt einige Passagen gestrichen oder andere geschickt paraphrasiert, aber ganze Kapitel und alle Fotos übernommen. Das kommentierte Alice später trocken: “Aber meine jüdischen Hände auf den Fotos blieben drin.”

Ein Kommentar

  1. Wolfgang Hunze

    Eine interessante Dokumentation zu diesem Buch findet sich in der Arte Mediathek.
    Die Autorin Karina Urbach berichtet dabei über ihre Recherchen zum Buch.

    Der Zugriff darauf ist zeitlich auf die Frist vom 12/10/2022 bis 11/11/2022 beschränkt. In dieser Zeit findet sich der Beitrag auch von Zeit zu Zeit im Arte-Programm.
    Nächste Ausstrahlung am Mittwoch, 2. November um 08:55

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